Foto: Shundo David Haye (shundophoto.tumblr.com)

Reb Anderson: »Du kannst alles haben, was mir gehört. Leider kann ich dir nicht auch noch den Vollmond geben.«

Der Zen Lehrer und Autor Tenshin Reb Anderson wurde 1970 von Shunryu Suzuki Roshi ordiniert. Bis heute lebt und unterrichtet er am San Francisco Zen Center. Ein Gespräch über sein Leben, Meditation als ethische Übung und die Bedeutung von Fragen.

Von Anne Voigt   —   21. August 2016

Vor 50 Jahren sind Sie von Minnesota nach San Francisco gezogen, um dort im Zen Center leben zu können. Sie saßen im Zendo und das Erste, was Sie von Ihrem zukünftigen Lehrer, Suzuki Roshi sahen, waren seine Füße. Sofort dachten Sie, dass diese Füße Sie Zen lehren können. Wussten Sie damals schon, dass dies auch die Bodhisattva-Praxis mit einschließt?

Nein, ich hatte davon noch nichts gehört. Allerdings sah ich Beispiele, die ich heute als Bodhisattva-Aktivitäten beschreiben würde.

Welche denn?

Ich hörte Geschichten von Zen Mönchen wie diese: Da war einer, der in einem kleinen Haus an einem Berghang wohnte. Während einer Vollmondnacht hörte er draußen Geräusche. Es klang so, als käme jemand langsam den Abhang hinauf. Es war ein Dieb. Bevor dieser in das Haus eindringen konnte, zog der Mönch seine Kleidung aus und warf sie zusammen mit seinem gesamten Besitz aus dem Fenster und sagte: „Du kannst alles haben, was mir gehört. Leider kann ich dir nicht auch noch den Vollmond geben.“

Ich denke, das war die Reaktion eines Bodhisattva. Aber ich dachte damals, dass diese Geschichte einfach nur wundervoll ist. Dem Dieb nicht nur alles zu geben, was man besitzt, sondern sich sogar noch zu wünschen, ihm mehr geben zu können. Ich wollte lernen, so mit einem Dieb umgehen zu können.

Hätten Sie das nicht auch an der Universität lernen können? Bevor Sie nach San Francisco gingen, studierten Sie unter anderem Psychologie.

An der Universität hatte ich diesen wunderbaren Betreuer. Er war unglaublich nett zu mir und sehr klug. Er nannte mich Swami, da er in Seminaren mein wachsendes Interesse an asiatischer Philosophie bemerkte. Eines Tages spazierte ich in der Nähe der Universität von Minnesota an einem McDonald’s vorbei, in dem mein Betreuer saß. Er war ein großer, holländischer Mann, der in diesem Moment über seinen Hamburger gebeugt saß. Sein Körper glich einem großen Fragezeichen. Ich sah ihn da sitzen und dachte, er ist ein wundervoller Mensch, aber nicht mein Lehrer. Er zeigt mir keine Lebensweise, keine Haltung.

Aber als ich Suzuki Roshis Füße sah, sagten sie zu mir: „Diese Füße üben. Diese Füße berühren den Boden Schritt für Schritt.“ Es ist nicht nur der Verstand gewesen, der da durch den Raum lief. Ich bin zum Zen Center gegangen, um meine Sinne zu trainieren – alle sechs, nicht nur den Intellekt. Ich spürte, dass mir das helfen würde, meinen wahren Weg im Leben zu finden und mehr zu sehen, als mein Intellekt sehen kann.

Zendo in Green Gulch
Zendo (Meditationshalle) in Green Gulch Foto: Anne Voigt

Im Mahayana Buddhismus ist ein Bodhisattva ein Wesen, das nach Erwachen strebt, um es für das Heil aller Wesen einzusetzen. Wie würden Sie einen Bodhisattva beschreiben?

(überlegt lange) Der Weg der Bodhisattvas ist es, sich gegenseitig zu helfen, von Illusionen befreit zu werden und im Frieden zu sein. Es ist eine Weise zu leben, eine Haltung. Ein Bodhisattva befindet sich nicht nur innerhalb eines Wesens, sondern in der intimen Beziehung zwischen zwei Lebewesen. Bodhisattvas sind nicht die Personen an sich oder die Personen, mit denen sie verbunden sind, es ist ihre Beziehung miteinander.

Gab es in Ihrer Kindheit einen Bodhisattva?

Ja, als ich ungefähr zwölf Jahre alt war, beschloss ich ein böser Junge zu sein. Ich erhoffte mir dadurch große Abenteuer. Einmal stahlen ein Freund und ich ein Auto. Ich wusste nicht mal, wie man Auto fährt. Mein Freund war ein Jahr älter und konnte es zumindest ein bisschen. Wir fuhren mit dem Auto umher, alles war sehr aufregend, bis wir plötzlich einen Unfall hatten. Die Polizei erwischte uns und brachte uns ins Gefängnis. Das alles war spannend, aber es tat mir auch sehr leid. Denn ich wusste, meine Mutter würde es sehr verletzen. Als ich danach wieder zur Schule ging, wurde ich gefeiert wie ein Star. Ich lebte in einer Gegend, in der vor allem die obere Mittelschicht zu Hause war. Die Jungs in meiner Nachbarschaft landeten nicht im Gefängnis. Ich war also plötzlich cool, weil ich straffällig geworden war.

Meine Mutter sah das natürlich anders. Sie und mein Vater waren getrennt, daher bat sie mich, mit einem Mann, der in unserem Haus wohnte, zu sprechen. Er mochte mich sehr und unterhielt sich kurze Zeit später tatsächlich mit mir. Er sagte, als er jung gewesen sei, habe er auch solche verbotenen Dinge getan. Er erzählte ein paar Geschichten von sich und ich dachte, ja, du hast so etwas auch angestellt. Und dann sagte dieser große Mann, der Box-Champion war, zu mir: „Weißt du, es ist einfach, böse zu sein. Gut zu sein, das ist schwer.“

Die Befreiung aller Wesen ist Teil des Bodhisattva-Gelöbnises. Was bedeutet das für Sie persönlich?

Ich nehme an, es bedeutet, dass ich es als eine interessante Sache ansehe, darüber die ganze Zeit nachzudenken. Für mich persönlich heißt es, dass es das ist, woran ich arbeite. Daran möchte ich mich erinnern. Ich überlege, wie das mit meinem persönlichen Verhalten in Verbindung steht. Ich versuche, meine anderen Gedanken, die Dinge, die ich sage und meine Körperhaltung mit diesem einen Gedanken in Beziehung zu setzen. Ich probiere also, alle meine Handlungen nach diesem Gelöbnis auszurichten.

Welche Rolle spielt Vertrauen innerhalb der Bodhisattva-Praxis?

Es wäre besser, mich auf das Wohl anderer Menschen zu konzentrieren als auf mein eigenes. Darin vertraute ich und tue es noch immer. Aber ich übe auch, mich daran zu erinnern, dass ich dem vertraue. Denn wenn Menschen in mein Gesicht spucken, mich schlagen oder mich beleidigen, könnte ich eventuell vorübergehend vergessen, dass ich mich darauf fokussiere, anderen zu helfen und mich um sie zu kümmern.

Wie kann man das tun, wenn jemand einem ins Gesicht spuckt?

Ich weiß nicht, wie es geschieht, aber manche Menschen sind dazu in der Lage. Es sind scheinbar diejenigen, die für einige Jahre geübt haben, sich daran zu erinnern, anderen helfen zu wollen. Daran haben sie sich tausende Male erinnert. Wenn man sich an etwas erinnert, was man tun möchte, verändert es den Körper. Jetzt wissen wir sogar, dass es die neurologische Struktur beeinflusst. Was man erinnert oder nicht erinnert, verändert den Körper, die Basis des Geistes.

Wenn man also seinen Geist auf eine bestimmte Weise nutzt, verändert man seinen Körper auf eine bestimmte Art. Wenn man über Gelöbnisse, die das Mitgefühl betreffen, nachdenkt, wird das den Körper beeinflussen. Wenn also jemand attackiert wird, könnte er, noch bevor er angegriffen wird, denken: Wie kann ich helfen? Und dann erfolgt der Angriff und er denkt weiterhin: Wie kann ich helfen? Und auch wenn er gelobt wird, überlegt er nur, in welcher Weise er helfen kann. Er nimmt nicht das Lob und läuft davon. Das ist die gleiche Sache. Diese Menschen denken also die ganze Zeit über ihren Wunsch nach, eine bestimmte Art von Leben zu führen. Und selbst wenn sie angegriffen werden oder geschockt sind, können sie auf diesem Pfad bleiben.

Gibt es Meditationen, die auch ohne die Bodhisattva-Praxis auskommen?

Einige Meditationen sind nicht mit dem Wunsch gekoppelt, die Freiheit aller Wesen zu realisieren. Manche Menschen meditieren einfach für ihren eigenen Frieden …

… auch um Stress zu reduzieren. Es gibt ja auch die Achtsamkeitsbewegung.

Genau, es gibt viele Arten von Meditation, die nicht notwendigerweise Bodhisattva-Meditationen sind. Also Übungen, bei denen es nicht darum geht, wie alles miteinander zusammenwirkt. Das ist Bodhisattva-Meditation. Sie beschäftigt sich nicht nur damit, wie ich funktioniere, sondern wie wir miteinander funktionieren. Die Realität ist unsere Beziehung. Einige Meditationspraktiken sind daran nicht interessiert und können trotzdem nützlich und heilsam sein. Die Bodhisattva-Meditation betrachtet das essentielle Wirken von Realität. Denn das ist notwendig zu sehen, um in den Prozess der Befreiung aller Wesen eintreten zu können. Diese Art der Meditation ist eine ganz bestimmte, an der viele Menschen glauben, nicht interessiert zu sein. Eigentlich sind sie es aber, sie wissen es nur nicht. Denn schlussendlich sind wir alle an Frieden und Freiheit aller Wesen interessiert.

Es gibt auch Menschen, die denken, im Zen ginge es einfach nur ums Sitzen und mehr nicht.

Das stimmt. Als ich begann zu sitzen, dachte ich auch, das Meditieren sei die Übung. Ich dachte nicht, dass es auch um zum Beispiel die 16 Bodhisattva-Richtlinien gehen könnte. Und viele Menschen sind davon auch eher abgeschreckt.

Es sind Richtlinien, die eine Art von Leben vorschlagen. Anderen nicht übel nachzureden, sie nicht zu bestehlen sind nur zwei dieser Prinzipien. Viele Menschen im Westen erinnert das an das Christentum und die Zehn Gebote oder an die Idee, dass man eine Sünde begehen könnte.

Genau. Einige Menschen, die sich mit Zen zu beschäftigen beginnen, verstehen diese Praxis nicht als eine ethische. Für sie ist es keine moralische Disziplin. Es ist eine, aber man sieht es nicht. Später endlich verstand ich, dass das Sitzen die Bodhisattva-Gelöbnisse und die Gelöbnisse das Sitzen sind. Aber das begriff ich nicht, bis ich begann, es zu studieren. Ich würde sagen, Zen entwickelte sich im Westen mehr und mehr und erst allmählich wurde verstanden, dass die Zazen Praxis auf diesen Gelöbnissen beruht. Das war ein großer Wandel, der sich in den letzten 30 Jahren vollzogen hat.

In den ersten 20 bis 30 Jahren, in denen Zen sich im Westen entwickelte, wurde von den Bodhisattva-Richtlinien kaum gesprochen. Und vielleicht war das sogar gut. Denn viele, die damals in einen Zen-Tempel kamen, wären vielleicht nicht gekommen, wenn sie davon gewusst hätten. Sie sahen einfach nur das wunderschöne Sitzen, aber sie kamen nicht, um etwas über Ethik zu lernen. Und das ist der Grund, warum sie Probleme mit dem Sitzen hatten. Viele Menschen geben es auf, weil sie nicht die ethische Grundlage haben, das Sitzen auf eine heilsame Weise zu üben.

Können Sie den Zusammenhang zwischen dem Sitzen und den Bodhisattva-Richtlinien näher beschreiben?

Wenn man zu viel Alkohol trinkt und versucht zu sitzen, mag das vielleicht Spaß machen, aber man kann keine Aufmerksamkeit aufbringen. Und dann schläft man ein. Wenn man lügt oder garstig zu anderen Menschen ist und sich auf sein Kissen setzt, kann man sich nicht konzentrieren, denn man fühlt sich schlecht. Man muss aufstehen und sich bei jemandem entschuldigen. Wenn man nicht darauf achtet, was man in seinem täglichen Leben tut und man versucht zu sitzen, ist es sehr schwierig, ruhig zu sein. Denn man sorgt sich nicht um sein Leben. Wenn man das nicht tut, ist man abgelenkt von den Dingen, um die man sich nicht gekümmert hat.

Diese Richtlinien sind aber kein Gesetz.

Sie sind wie die Dinge wirklich sind. In diesem Sinne sind sie ein Gesetz. Aber sie kontrollieren einen nicht. Diese Richtlinien sind die Art und Weise wie Buddhas, wie wir sind. In Wirklichkeit töten wir nicht, wir stehlen nicht. Wer das nicht versteht, kann diese Richtlinien üben, bis er es tut. Sie kontrollieren uns nicht. Wenn sie uns schon unter Kontrolle hätten, würden wir sie nicht brauchen. Aber da wir nicht unter ihrer Kontrolle stehen, sondern sie Möglichkeiten für uns sind, denen wir uns hingeben können, sind sie für uns verfügbar. Wir können uns ihnen hingeben, wir können unser Leben für sie leben und durch sie und eines Tages verstehen, dass sie immer schon die Realität unseres Lebens gewesen sind.

Eines der Bodhisattva-Prinzipien ist die rechte Rede. Ihre Beobachtung ist, dass viele Menschen damit Probleme haben. Wie können wir beginnen, rechte Rede zu üben?

Sie haben es gerade getan. Sie haben einen guten Anfang gemacht. Wie können wir rechte Rede üben? Das ist eine wirklich gute Übung, um sich der rechten Rede zu nähern.

Einfach nur durch das Stellen der Frage?

Ja. Im Moment spreche ich zu Ihnen. Es wäre gut, während ich zu Ihnen spreche, mir diese Frage bewusst zu machen. Es verändert die Art, wie ich auf Sie schaue, wie ich spreche. Es führt dazu, dass ich darauf höre, was ich sage. Ich denke, es würde mir helfen, Ihnen zuzuhören.

Rechte Rede zu üben, hat auch damit zu tun, anderen Menschen zuzuhören. Wenn ich anderen wirklich zuhöre, würde mich das ermutigen, die Wahrheit zu sagen und mich aufmerksamer machen, was ich ihnen erzähle, denke ich. Denn ich sorge mich genug um sie, um ihnen zuzuhören. Also sollte ich mich vielleicht darum bemühen, sorgsam zu sprechen. Aber ich denke, die Frage schließt all die Aspekte mit ein, die ich gerade angesprochen habe. Wenn ich frage, wie ich rechte Rede üben kann, scheint es mir angebracht, sorgsam mit meiner Sprache umzugehen. Vielleicht auch sanft und behutsam. Eventuell ist rechte Rede auch freundliche, respektvolle Rede. Das Grundlegende sind die Fragen. Was ist rechte Rede? Was sind die Bodhisattva-Prinzipien? 

Das Interview wurde erstmalig in leicht abgeänderter Form in der Zeitschrift Buddhismus aktuell veröffentlicht.