Foto: Stefan Weigand

Pierre Stutz: »Ich kenne zur Genüge, nicht zu genügen.«

Pierre Stutz war Jugendseelsorger und katholischer Priester, heute ist er Autor und spiritueller Lehrer. Ein Gespräch über die Bedeutung, sein ureigenes Leben zu führen und wieso das alles andere als einfach ist.

Von Anne Voigt   —   22. November 2016

Sie sind ein Filmfreak. Sie können Filmszenen, in die Sie sich verliebt haben, 50-mal anschauen. Angenommen, jemand würde einen Film über Ihr Leben drehen, wie müsste der Titel lauten?

(lacht) Das fängt ja schon gut an. Spontan kommt mir in den Sinn: Leidenschaftlich gelassen. Wie kann ich mitten im Leben stehen? Wie engagiere ich mich für eine zärtlichere Welt? Und wie kann ich mich dabei nicht verlieren? Das sind so meine Lebensthemen. Ich mag diese Spannung zwischen Leidenschaft und Gelassenheit. Es gibt Leute, die sagen: »Entweder ist man gelassen oder leidenschaftlich. Beides zusammen geht doch nicht.« Und das es doch gehen kann, zeige ich gerne auf und übe ich auch selbst ein.

Ihnen gefällt sehr der Film Timbuktu, der die Situation in Mali 2012 schildert. Islamisten dringen in Timbuktu ein und verbieten den Menschen dort alles: Das Lachen auf öffentlichen Plätzen, Musikhören und auch das Ballspielen. In einer Szene des Films spielen Jugendliche Fußball ohne Ball. Und für Sie ist das ein Moment, der zeigt, wie Menschen in Würde ihren Weg gehen können. Haben Sie ein Beispiel dafür aus Ihrem Leben?

Eines ist sicher, dass ich mein Priesteramt niedergelegt habe, um endlich ganz zu mir zu stehen. Eben auch zu meiner Sehnsucht, einen Mann lieben zu können. Das zentrale Thema für mich und sicher auch für viele Menschen ist, nicht in der Opferrolle stecken zu bleiben. Wenn wir im Leben Rückschläge erfahren oder massiv infrage gestellt werden, gilt es sich zu verbünden.

Das fasziniert mich auch an dieser kurzen Filmszene. Die gibt mir Rückgrat, indem sie mir sagt: Egal was passiert, lass dich nicht unterkriegen. In dieser Szene werden die Jugendlichen von den Islamisten bedroht. Und was machen diese Kids? Sie gehen in die Bewegung. Sie machen etwas ganz Zentrales, nämlich Körperübungen. Wenn wir von Ohnmacht und Lähmung umzingelt sind, dann lässt sich das nicht nur gedanklich bearbeiten. Wir brauchen den Körper. Darum ist für mich Joggen, Yoga, Schwimmen, Qigong oder auch wildes Tanzen so wichtig.

Meditation heißt nicht nur Augen schließen und still sein. Für mich bedeutet es, ganz bei der Sache zu sein, mich hinzugeben. Auch in der Bewegung kann ich durch die Wiederholung innerlich ruhig werden. Insbesondere in westlichen Ländern haben wir die Tendenz, dass wir krampfhaft entspannen wollen. Das wollen wir auch total gut machen. (lacht)

Sie glauben, dass wir alle eine ganz eigene Aufgabe in dieser Welt haben. Was ist die Sache, für die Sie leben?

Ich möchte, dass Menschen sie selbst werden und den aufrechten Gang einüben können. Ich gehe davon aus, dass jede und jeder von uns einen ureigenen Auftrag hat, den nur sie oder er erfüllen kann. Es lohnt sich dafür zu leben, Menschen Mut zu machen, dass sie ihr ureigenes Leben führen. Systeme wie zum Teil die Religionen, aber auch die ganzen Wirtschaftsprogramme entfremden uns. Auf den Altären der Fortschrittsgläubigkeit wird die Gesundheit von so vielen Menschen geopfert, und sie merken es nicht einmal. Oder sie denken, sie seien freie Menschen.

Für das Projekt, dass Menschen sie selbst werden können, mache ich mich stark. Und für mich heißt das natürlich immer, zu erahnen, dass darin eine göttliche Spur ist. Ich kann das nicht von mir aus alleine tun. Es braucht meine Bereitschaft, an meiner Persönlichkeit zu arbeiten. Aber um da nicht verbissen zu werden oder in so eine Leistungsfalle zu geraten, ist auch die entlastende Haltung wichtig, dass ich in etwas Größerem aufgehen kann.

Was hält Sie gelegentlich davon ab, so zu sein, wie sie sind?

Ein ganz starkes Motiv, was mich jahrelang geprägt hat, ist die Angst vor Liebesentzug. Was denken die anderen? So bin ich in einem kleinen Dorf sozialisiert worden.

Ich glaube, dieses Motiv steckt in den meisten von uns.

Ja, geliebt zu werden, das ist unsere Ursehnsucht. Auch geliebt zu werden, nicht nur wenn ich toll und gut drauf bin, sondern auch in meiner Zerbrechlichkeit. Ich kenne immer wieder Momente, in denen ich Angst vor dem Leben habe. Ich kenne zur Genüge, nicht zu genügen. Das sind Menschheitsthemen. Man kann das als Schicksal bezeichnen oder sagen: Wenn ich mich diesem wunden Punkt stelle, habe ich die Chance zu wachsen. Daraus kann etwas entstehen.

Wie finden wir denn unsere Aufgabe in diesem Leben? Müssen wir uns dafür zurückziehen, um unsere innere Stimme zu hören?

Das ist sicher eine Spur, die heute wichtiger ist denn je. In der Stille, der Leere bekommen wir Panik. Da ist Langeweile und nichts los. Ich denke, unsere Aufgabe ist es, dass wir alle Lebenskünstler werden. Dafür ist der Rückzug in die Stille, dieses »Vor der leeren Leinwand stehen und wochenlang zu warten bis von innen her etwas aufbricht« eine Möglichkeit. Das hat immer etwas mit Vertrauen zu tun.

Zum Beispiel habe ich mal ein Buch über Filme geschrieben. Einen ganzen Sommer lang saß ich vor dem leeren Blatt. Der Sommer war vorbei und ich hatte noch keine Zeile geschrieben. Und ich wusste, ich muss das aushalten, weil dann irgendwann etwas aufbrechen wird. Daher mache ich Menschen Mut, schon im Alltag zum Beispiel regelmäßig auf ihren Atem zu achten. Oder auch im Kalender zu notieren: »Zu Gast bei mir.« Ich weiß, dass klingt für viele exotisch.

Der Komiker Karl Valentin sagte: »Heute Abend besuche ich mich, mal schauen, ob ich zu Hause bin.« Die Stille ist dafür hilfreich. Aber auch durch die Leidenschaft und Liebe, die ich durch einen Kinofilm, ein Konzert oder einen Gang durch die Schöpfung erfahre, kann in mir das aufbrechen, was von außen her gespiegelt wird. Mit ganz vielen Kinogeschichten konnte ich mich identifizieren. Es braucht beides: den Mut in sich zu gehen und auch, sich inspirieren zu lassen.

Eine wichtige Erfahrung in Ihrem Leben war die Teilnahme an einem 30-tägigen Schweigeseminar. Es dauerte einige Jahre bis Sie bereit waren, sich dafür anzumelden. Sie spürten einerseits die Sehnsucht danach, aber auch Angst. Was ängstigte Sie?

Ja, es war die Angst, sich selbst zu begegnen. So wie ich es dann auch erlebt habe. Ich war in einer tollen Gruppe mit ganz unterschiedlichen Leuten. Ich kenne alle nur vom Schweigen. Das waren ganz intensive Begegnungen. Es ist toll, wenn man mal nicht sagen muss, was man alles schon gemacht hat und wer man »ist«, und einfach sein kann. Während der ersten Woche war ich hochdepressiv. Was bleibt von mir übrig, wenn ich mich nicht durch Leistung definieren kann? Stimmt das wirklich, was da so fromm gesagt wird: »Du bist gesegnet vor allem Tun«?

Ganz wichtig war für mich das tägliche Gespräch mit einem Priester, der uns begleitete. Es ging vor allem darum, meine unglaubliche Angst vor meinem Schwulsein anzuschauen. Ich wollte nicht zu dieser Minderheit gehören und Schwule sind in der Minderheit. Ich wollte das nicht sein. Der Priester machte mir Mut und sagte mir, was die offizielle Kirche leider bis heute nicht sagt: »Wir können Gott nur erfahren, wenn wir Mensch werden.« Und dafür muss ich eben auch zu diesem Teil von mir stehen. Ich lasse mich nicht auf das reduzieren, ich bin ja viel mehr. Aber die sexuelle Orientierung ist einfach etwas ganz Prägendes im Leben.

Mitte 30 erlitten Sie einen Burn-out, mit dem Sie zwei Jahre lang beschäftigt waren. Ihre Willenskraft hatte Sie bis dahin gebracht, aber dann ging es plötzlich nicht mehr weiter. Gibt es am Willen etwas auszusetzen?

(lacht) Das Problem ist eben, wenn ich nur Wille bin. Ich finde, im Leben geht es darum, zu lernen zuzupacken, und dafür braucht es Willenskraft. Die habe ich bis heute und möchte sie nicht missen. Aber wenn ich immer nur zupacke, dann werde ich irgendwann erschöpft sein. Daher ist das Geschehenlassen, das Sich-Hingeben an das Leben auch wichtig. Wenn ich nur vom Willen her, von der Ich-Ebene und nicht auch von meinem Selbst oder vom Herzen her lebe, wird es schwierig.

Wir kennen alle Momente, in denen wir voll da sind und ganz weg. Beim Tanzen zum Beispiel muss ich mir meinen Raum nehmen. Es braucht die gesamte Leiblichkeit, auch Übung. Aber das Entscheidende können wir nicht machen, das ist nicht vom Willen abhängig. Es sind diese unglaublich kostbaren Momente, wenn die Tänzerin und der Tänzer zum Tanz werden. Wenn wir uns vergessen, aufgehen in etwas Größerem.

Als Sie sich konfrontiert sahen mit dem Burn-out, haben Sie oft in Ihr Tagebuch geschrieben: »Ich gehe zu Grunde.« Dann sind Sie auf Johannes Tauler, einem Weggefährten des Mystikers Meister Eckhart, gestoßen, der diesen Begriff »zu Grunde gehen« in einem ganz anderen Sinn verwandt hat. Inwiefern war das für Sie ein wichtiger Moment?

In über der Hälfte meines Tagebuches stand immer und immer wieder nur dieser eine Satz: »Ich gehe zu Grunde.« Diese wenigen Worte habe ich so verwendet, wie die Mehrheit der Menschen sie bis heute nutzt. Ich war 38 Jahre alt und wochenlang wie gefangen. Ich dachte, ich hätte das ganze Leben verpasst. Alles sei zu spät. Und dann kommt so ein Mönch aus dem 14. Jahrhundert und verwendet diese Worte in einem lebensfördernden Sinn. Nach dem Motto: Ja, mach es doch endlich. Schreib doch nicht nur immer, gehe zu Grunde. Geh jetzt mal deinem Leben auf den Grund. Geh dieser Frage nach. Wer oder was hindert dich, das zu leben, was du eigentlich spürst?

Für mich war das wirklich ein spirituelles Erwachen. In einem Bruchteil von Sekunden hatte ich das begriffen. Dann habe ich aber nochmal zehn Jahre gebraucht, um dem wirklich auf den Grund zu gehen. Da sind dann wieder die Ängste und Ausreden. Eigentlich möchte ich doch in die Höhe gehen, Gipfelerlebnisse erfahren. (lacht)

Sind die Gipfel eigentlich unten?

Ja, wobei uns auch Gipfelerlebnisse verheißen sind. Aber auf dem Gipfel können wir nicht leben. Ich habe eine Freundin, die auf dem Kilimandscharo war. Jahrelang hatte sie sich darauf vorbereitet. Nach der Reise zeigte sie mir ein Foto, auf dem sie oben auf dem Gipfel stand und dem Himmel so nah war. Und dann fragte ich sie, wie lange sie dort oben gewesen sei. Sie mochte mir die Antwort nicht geben, weil sie es selbst nicht hören wollte: keine Viertelstunde.

Auf dem Gipfel kann man nicht leben. Wenn wir nicht akzeptieren, dass es wieder heruntergeht, gelangen wir in ein Suchtverhalten. Das Beflügeltsein gehört zum Leben dazu, aber wir sollten uns dann eben nicht wieder abwerten, wenn es alltäglich wird. Wenn ich mich nach einem gelungenen Auftritt am nächsten Morgen wieder schlapp und müde fühle, weil der Körper auch noch etwas zu sagen hat, dann gehört auch das dazu.

Sie betonen stets die Widersprüchlichkeit des Lebens. Da, wo es das Schöne gibt, ist auch das Zerbrechliche zu Hause. Wenn ich meiner Kraft begegne, erfahre ich auch meine Grenzen, meine Endlichkeit. Beide Seiten möchten Sie würdigen. Wie gelingt Ihnen das?

Ich nenne es das Glück der Unvollkommenheit. Es geht darum, anzunehmen, dass ich hier auf dieser Welt vollkommen bin, wenn ich unvollkommen bin.

Ich hatte letztes Jahr die Möglichkeit, das Labyrinth von Chartres zu begehen. Wenn Sie zur Mitte kommen möchten, dürfen Sie 28 Kehrtwendungen machen. Und Sie müssen bis zum äußersten Rand gehen, bevor Sie zur Mitte gelangen. Die Mitte ist also da, sie erwartet Sie, aber es ist eben kein Schnelldurchlauf. Auch die so genannten Rückfälle dürfen da sein.

In dem Zusammenhang zitiere ich gerne Hieronymus, einen Theologen aus dem 4. / 5. Jahrhundert: »Lach nicht über jemanden, der zwei Schritte zurückgeht. Bedenke, er könnte Anlauf nehmen.« Wir können Anlauf nehmen, wenn wir wieder mit unserer Dünnhäutigkeit konfrontiert sind.

Mein Leiden war teilweise suizidal, aber es erwuchs ein unglaubliches Mitgefühl daraus. Ich könnte nie solche Texte schreiben, wenn ich nicht auch so gelitten hätte. Durch das Schöne können wir so unglaublich viel ausstrahlen, genau wie durch das Lachen. Sich zu krümmen vor Lachen, ist so ein wundervoller Moment. Lachen kann ein großes Potential haben, aber nicht auf Kosten von »immer gut drauf« sein zu müssen. Lachen und Weinen darf sich beides zeigen, und man muss sich auch gut dabei fühlen dürfen. Das ist volles Leben. Wenn diese Vielfalt sein darf, dann kann daraus etwas entstehen.

Das Problem ist, das wir mit so einem Abwertungssystem ausgestattet sind. Wir werden mit der Muttermilch darauf konditioniert, alles gleich zu bewerten. Wir sagen sofort, das ist richtig und das falsch. Bei all den großen Fragen, die Sie mir heute gestellt haben, geht es letztlich immer um diese Einladung zur Bewusstheit. Es geht darum, in der Spannung zu bleiben und nicht in die Entweder-oder-Falle zu tappen. 

Das Interview wurde erstmalig in leicht abgeänderter Form in der Zeitschrift Yoga Aktuell (Ausgabe Dezember/Januar 2017/18) veröffentlicht.