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Orit Sen-Gupta: »Der Körper ist wie ein spiritueller Text, der studiert werden kann.«

Die israelische Vijnana Yogalehrerin und Autorin Orit Sen-Gupta übt seit mehr als 40 Jahren Yoga. Sie unterrichtet weltweit und war die Erste, die den ältesten Yoga-Text, Patanjalis Yoga Sutra, vom Sanskrit ins Hebräische übersetzte. Wir sprachen über die Weisheit des Körpers, warum Yoga eine Praxis des Zuhörens ist und wie das Üben sie verändert hat.

Von Anne Voigt   —   15. Januar 2017

Was bedeutet es, wenn Yoga geschieht? Das ist für dich eine wichtige Frage. Du verstehst Yoga als eine Praxis, bei der ein weiter, ruhiger und dennoch fokussierter Geist zum Tragen kommt und der Körper seine natürliche Weisheit wiederentdeckt. Was ist für dich die Weisheit des Körpers?

Ich denke, die Weisheit des Körpers kann man bei Kindern gut beobachten. Deren Körper verweilen beständig in der Mitte. Die Verbindung von den Gliedmaßen zur Körpermitte geschieht spontan und völlig frei. Wenn kleine Kinder auf Bäume klettern, kann man genau sehen, wie fokussiert sie sind. Sie greifen mit ihrer Hand nach einem Ast und sie halten sie dort, denn sie verstehen, dass sie für Balance etwas tun müssen. Die Weisheit ist da.

Wenn unser gesamter Körper sich nach dieser Mitte ausrichtet, entsteht eine tiefe Balance und Harmonie. Und wie halten wir diese Mitte, wenn wir uns von einem Asana (Körperhaltung) zum nächsten bewegen oder wenn wir sitzen und essen oder laufen. Ich denke, der Körper lehrt uns das langsam. Die Mitte bringt uns bei, an der Mitte festzuhalten. Die Weisheit des Körpers ist also etwas sehr Einfaches. Das Gefühl, das dabei entsteht, ist unverwechselbar.

Vijnana Yoga legt den Fokus auf das Verstehen von innen heraus. Das Zuhören dem eigenen Körper und Geist gegenüber wird kultiviert. Wie können wir das immer und immer wieder üben, ohne von den Widerständen, die dabei auftreten, zu sehr eingenommen zu werden?

Wenn ich auf meinem Meditationskissen sitze, wenn ich Pranayama (die Beobachtung des Atems) übe oder auf meiner Yogamatte stehe, finde ich es einfach jedes Mal aufs Neue interessant, wie meine Füße oder auch mein Gesäß den Boden berühren. Ich finde es spannend zu spüren, wie die Region um die Schulterblätter entspannt oder die Luft meine Haut berührt. Wenn einen das nicht interessiert, ist es unmöglich, von innen heraus zu üben. Aber wenn man es spannend findet, ist das Üben jeden Tag anders. Denn an jedem Tag sind meine Füße und auch mein Geist ein bisschen anders. Ständig lehrt dich der Körper etwas.

Wenn du zum Beispiel hinunter in Chaturanga (Bretthaltung) gehst und du dabei wirklich den Rücken ruhig halten möchtest, müssen deine Hände in einer bestimmten Weise arbeiten, genau wie dein Bauch. Von innen heraus lernst du das. Es ist eine Sache des Interesses. Mit der Zeit übst du subtiler und du verstehst deinen Körper mehr und mehr.

Als du bereits zwölf Jahre ernsthaft Yoga geübt hattest, spürtest du, dass du in deiner Praxis feststecktest. Nachdem du die Yogalehrerin Dona Holleman getroffen und einige Jahre mit ihr zusammen geübt hattest, wurde dir klar, dass etwas nicht stimmte. Jeder lobte dich für deine schön anzusehenden Yogahaltungen, aber du spürtest, dass sie sich nicht gut anfühlten. Und dann begannst du, deinen Körper wirklich von innen heraus neu zu entdecken.

Ja, Dona war natürlich eine großartige Yogaübende. Sie hörte ihrem Körper wirklich zu. Ihre Praxis sah sehr weich und verbunden aus. Ich als ihre Schülerin versuchte das zu imitieren, aber Margarine und Butter sind zwei verschiedene Dinge. Sie sehen sich ähnlich, sind es aber nicht. Ich denke, ich fühlte diese Kluft. Ich konnte zwar oft in die Haltungen gehen, denn ich war stark und jung und voller Leidenschaft, aber ich fühlte nicht die Balance und Harmonie, die Yoga meiner Meinung nach mit sich bringen sollte.

Orit Sen-Gupta
Foto: vijnanayoga.com

Und so dachte ich, entweder ist Yoga eine Schande, insofern, dass es gut aussieht, sich aber nicht so anfühlt. Oder es fühlt sich doch sehr harmonisch an, aber ich bin nicht in der Lage, diese Balance in meiner Praxis umzusetzen. Für mich war das ein sehr schwerer Moment, denn ich hatte bis dahin schon viel Yoga geübt. Aber es war auch okay. Ich war angespornt, es herauszufinden. Ich versuchte, Haltungen zu finden, die sich für mich ruhig und harmonisch anfühlten. Es waren Asanas, in denen sich mein Körper nicht fragmentiert anfühlte. Und diesen Zustand versuchte ich, nicht zu schnell zu verlassen.

Meine Intention war es, das Gefühl des Verbundenseins in allen Asanas zu behalten. Und mit der Zeit veränderte sich mein Üben. Ich bewegte mich weicher, ein wenig langsamer und hörte ein kleines bisschen mehr nach innen. Es ging mir nicht mehr darum, schnell in die Haltung zu gelangen. Und dann fühlte es sich tatsächlich besser an.

Orit Sen-Gupta
Foto: vijnanayoga.com
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Also scheint Yoga doch zu funktionieren.

Ich arbeite noch daran – immer und immer wieder. Ich bin damit noch nicht am Ende.

Von Meditierenden hört man öfter, dass ihnen Yoga für das Sitzen hilft. Was natürlich stimmt, aber Yoga ist doch so viel mehr, oder?

Ich glaube, Menschen, die sich fast ausschließlich auf ihre Meditationspraxis konzentrieren, denken, ihr Körper sei einfach dumm. Sie glauben, ihr Körper ist etwas, das sie ein wenig aufwärmen müssen, um dann meditieren zu können. Aber ich bin eben nicht der Meinung, dass wir Körper und Geist sind. Ich denke, wir sind Körper-Geist.

Ich glaube, die Weisheit des Körpers wird schlussendlich mehr respektiert werden. So gesehen, habe ich es auch nie bereut, Yogaübende und nicht nur Meditierende zu sein. Denn ich messe dem Körper wirklich eine große Bedeutung bei. Ich denke, du kannst ihn wie einen spirituellen Text betrachten, der studiert werden kann. Es ist eine Schande, ihn nur als eine Art Hülle anzusehen. Er ist ein Text. Er ist ein unfassbar weiser Organismus. Und sogar unser Geist befindet sich in unserem Körper, daher muss er mehr und mehr verstanden werden.

Yoga bedeutet nicht nur, eine gute Zeit auf der Matte zu haben. Wenn man diese Praxis als einen Pfad begreift, als eine authentische spirituelle Suche, kann man sich seinem Leben von einem radikal anderen inneren Standpunkt aus nähern. Wie hat sich dein Leben durch Yoga verändert?

(überlegt lange) Ich denke, mit den Jahren bin ich ein angenehmerer, freundlicherer Mensch geworden. Das hat allerdings eine lange Zeit gebraucht. Ich glaube, ich bin weniger negativ und wertend und höre auf eine einfache Weise mehr zu.

Wie ist das mit deinen Schülern?

Ich hatte die große Freude mit meinen Schülern zu wachsen, viele von ihnen kenne ich schon sehr lange. Mit den Jahren sind sie weiser geworden, manchmal weniger weise als sie gerne sein würden. Für diejenigen, die wirklich regelmäßig üben, hat Yoga eine große Wirkung, das beobachte ich immer wieder. Ich sehe es ihrer Körperweisheit, ihren Gesichtern an und welche Beziehungen sie zu den Dingen um sie herum haben.

Ich habe einen Schüler, der Anwalt ist, und daher öfter vor Richtern steht. Und er beschreibt sehr gut, wie er oft nur allein durch das Fühlen seines Körpers und das Spüren seiner Füße am Boden, von einem anderen Standpunkt aus spricht. In dieser Hinsicht bin ich sehr optimistisch.

Optimistisch insofern, dass Yoga wirklich unser Leben und damit eben auch unser Handeln in der Welt verändern kann? Mein Gefühl ist, viele von uns könnten ein kleines bisschen bessere Menschen sein. Die große Frage ist, ob Yoga hierbei wirklich helfen kann. Denn ich glaube, diese Welt braucht ziemlich bald Menschen, die eine innere Haltung haben und freundlich und respektvoll mit anderen umgehen können.

Da stimme ich dir zu. Ich denke nur, dass es länger dauert und mehr Übung braucht, als wir denken. Ich glaube, viele meinen, dass sie zweimal in der Woche den Yogaunterricht besuchen und damit wirklich praktizieren. Das ist auf jeden Fall prima und gut. Es macht dich zu einem besseren Menschen. Aber wenn du jeden Tag übst, bringt es dich mehr mit dir selbst in Verbindung. Du achtest mehr darauf, was wichtig und was unwichtig ist. Und natürlich gibt es auch Menschen, die mehr benötigen als eine Yogapraxis. Dies hängt auch von unserer Herkunft ab. Manchmal brauchen wir vielleicht eine Therapie oder etwas anderes.

Insgesamt denke ich, mit der Zeit macht uns das Yoga-Üben hoffentlich zu besseren Menschen. Wenn nicht, ist diese Praxis gescheitert. Dann hat sie ihren Job verfehlt. Yoga ist ganz sicher nicht nur dafür da, dass wir uns in unserem Körper besser fühlen. Und es ist nicht mal nur dafür da, dass wir ruhiger werden und seltener unsere Kinder anschreien. Ich denke, Yoga-Üben geht weit darüber hinaus. Und wenn sich das über einen langen Zeitraum nicht einstellt, dann ist diese Praxis gescheitert und wir befinden uns in Schwierigkeiten.

Orit Sen-Gupta
Foto: vijnanayoga.com
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Yoga hat dich dein ganzes Leben lang bis heute begleitet. Du hast es in vielen Ländern unterrichtet und außerdem bist du Mutter von zwei Töchtern. Aus deiner Erfahrung heraus, was bedeutet es, Mensch zu sein?

(überlegt lange) Letzten Sommer zog ich mich für mehrere Wochen zu einem Einzelretreat zurück. Ich hatte viel Zeit, um mich selbst und andere zu reflektieren. Ich betrachtete, wie wir unser Leben verbringen. Generell hatte ich das Gefühl, dass Menschen in irgendeiner Weise produktiv sein wollen. Das kann alles sein: Sich schön zu kleiden, zu kochen, Yoga zu unterrichten oder ein Nuklearwissenschaftler zu sein. Menschen wollen produktiv sein und dafür auch respektiert werden. Sie wollen bewundert werden, genau wie ein kleines Kind von seiner Mutter bewundert werden möchte.

Die grundlegenden Dinge sind, produktiv sein zu wollen, respektiert zu sein, bewundert zu werden für einfach das, was wir sind und wir wollen uns sicher fühlen. Wenn wir all das haben, sind wir ein bisschen ruhiger. Solange wir etwas davon auf eine grundlegende Weise nicht haben, fühlen wir uns ständig unruhig.

Ich glaube, die meisten von uns kennen diese Unruhe.

Ja, ich denke aber, wenn du einen Weg findest, der dich spüren lässt, dass du von innen heraus, diesen Bedürfnissen begegnen kannst, dann kannst du ein vernünftiger, guter Mensch sein – dir selbst gegenüber und auch anderen. Denn du befindest dich nicht mehr in dieser bedürftigen Position. Dafür musst du dich selbst aber sehr klar sehen. Du musst dir deine Bedürfnisse anschauen und beobachten, wie sie dich die ganze Zeit bestimmen. Und dann kannst du sogar in schwierigen Situationen, in denen du dich zum Beispiel nicht sicher fühlst, vernünftig handeln. Anderenfalls bist du ständig damit beschäftigt, diese kleinen Feuer zu entzünden.

Und es besteht die Gefahr, dass du andauernd jemanden brauchst, der deine Bedürfnisse befriedigt.

Niemand kann uns dabei helfen. Denn wie sehr uns auch jemand anderes bewundert, es hilft uns nur in diesem Moment. Sobald er gegangen ist, spüren wir wieder dieses Bedürfnis nach Bewunderung. Schlussendlich musst du dir einen Weg suchen, um diesem Verlangen zu begegnen. Ich denke, Yogapraxis ist dieser Weg. Durch das Üben verstehst du, wie stark dieses Verlangen ist. Und wenn du das erkennst, kontrolliert es dich nicht mehr so stark.

Und dann kannst du über diese grundlegenden Bedürfnisse hinausgehen und ein freundlicher und großzügiger Mensch werden, der sieht, was getan werden muss und es auch tut. Mensch zu sein, heißt nicht, sich nur auf dieser Bedürfnisebene zu bewegen, mit dieser muss man arbeiten. Es funktioniert nicht, einfach zu versuchen, immer ein netter und großzügiger Mensch zu sein. Denn wenn die ganze Zeit etwas an dir nagt, wird deine Sicherung irgendwann durchbrennen.

Dinge wie Großzügigkeit und Geduld können wir uns selbst nur auf sehr sanfte Weise geben. Und auch wenn wir mal nicht in der Lage sind, geduldig und großzügig zu sein, sollten wir versuchen, das zutiefst zu akzeptieren. Wir können dann einen sogenannten Großmuttergeist kultivieren, einen Geist, der offen ist. So haben wir die Möglichkeit, gute Menschen zu sein – in unseren Gedanken und Taten. 