Foto: Norbert Hübner

Muhō Nölke: »Bis heute ist noch jedem das Sterben gelungen.«

Der Zen-Meister Muhō Nölke ist der einzige deutsche Abt eines japanischen Zen-Klosters, Ehemann und Vater von drei Kindern. Ein Gespräch über die Kunst des Loslassens, Meditation als Körperpraxis und den Sinn des Lebens, den es gar nicht braucht.

Von Anne Voigt   —   15. September 2016

»Das Leben hat keinen Sinn, deswegen ist es ja so schön.« Der Satz stammt von Ihnen. Ich weiß nicht, wie viele Regale man füllen könnte mit Büchern über den Sinn des Lebens und jetzt sagen Sie, den gibt es gar nicht. Jedenfalls nicht in der Form, wie wir oft nach ihm suchen. Wieso ist das denn so schön?

Weil diese Suche nach Sinn oder Glück oder im Zen Erleuchtung uns von der eigentlichen Sache selbst wegführt. Und die eigentliche Sache selbst ist das Leben, das man hier und jetzt führt. Und wenn ich jetzt frage, aber welchen Sinn hat denn das Leben hier und jetzt, bin ich in Gedanken schon woanders. Meine Augen sind immer auf die Karotte gerichtet, die ich einen Meter vor mir halte. Ich will immer zu der Karotte, aber je mehr ich auf sie zugehe, desto weiter läuft sie vor mir weg. Ich für mich würde sagen: Sinn, warum? Wenn es einen Sinn im Leben gäbe, er wäre ja schon woanders. Warum nicht einfach leben in diesem Moment?

Ihre Mutter starb, als Sie sieben Jahre alt waren, daraufhin fragten Sie sich, was es mit dem Leben eigentlich auf sich hat. Anstatt vor dem Tod hatten Sie Angst vor dem Leben. Was führte denn dazu, dass Sie sich irgendwann sagten, das mit der Suche nach dem Sinn des Lebens lasse ich besser sein?

Letztlich war das der Buddhismus, aber das war ein relativ langer Weg. Mit 16 bin ich durch Zufall mit Zen-Meditation in Kontakt gekommen. Ich lebte im Internat und wurde von einem Pädagogen in meiner Schule förmlich überredet, Zazen (Sitzmeditation) auszuprobieren. Später begann ich, Bücher zu lesen, in denen etwas über Erleuchtung stand. Anfangs dachte ich, das ist genau das, wonach ich immer gesucht habe. Buddha hat unter dem Baum der Erleuchtung die Lösung vom Leiden gefunden. Das will ich auch. Und dafür muss ich nach Japan gehen, denn Zen kommt aus Japan. Und dann ging ich dorthin und nach einigem Suchen fand ich das Kloster, wo ich auch heute noch bin, Antaiji.

Die ersten Jahre im Kloster bin ich der Karotte, die ich Erleuchtung nenne, nachgerannt. Ich habe sie gesucht, obwohl mir gesagt wurde, dass sie sich dadurch nur mehr von mir entfernen würde. Ich stieß auf innere Widerstände. Mit der Meditation war es nicht einfach, genau wie mit der Arbeit auf den Feldern und dem Küchendienst. Ich überlegte, wieder nach Deutschland zurückzufahren. Manchmal dachte ich im Ernst, dass mich das Leben im Kloster vielleicht noch umbringen könnte.

Andererseits wusste ich auch nicht, wohin ich in Deutschland hätte gehen sollen. Ich dachte, wenn ich es hier in Japan nicht schaffe, schaffe ich es nirgends. Ich musste bleiben, aber ich hatte Angst, dass mich das mein Leben kosten könnte. So fühlte ich mich. Und irgendwann sagte ich mir, gut, wenn du es nicht schaffst, stirbst du hier in Antaiji. Irgendwann wirst du eh sterben. Was könnte schöner sein, als ein Grab hier im Kloster zu haben? Und von dem Tag an war es plötzlich sehr viel leichter für mich. Ich musste nach nichts mehr greifen, ich musste nicht mehr kämpfen, ich musste vor nichts mehr davonlaufen. Ich war bereit zu sterben und plötzlich merkte ich, ich lebe und das ist wunderbar.

Bis dahin dachte ich immer, ich lebe, aber warum? Ich lebe, aber was noch? Es muss doch noch was dazukommen. Und auf einmal merkte ich, wenn ich bereit bin zu sterben, ist es wundervoll, dass ich lebe. Ich weiß nicht, warum das so ist. Ich weiß nicht, ob es einen Sinn hat oder nicht. Aber allein die Tatsache, dass ich hier jetzt sitze und ein- und ausatmen kann, ist wundervoll.

Wie ist das in Ihrem Alltag? Haben Sie generell das Gefühl, dass alles ganz in Ordnung ist oder gibt es schon auch Momente, in denen Sie sich wünschen, die Dinge wären anders?

Die gibt es. Ich bin verheiratet und habe eine Familie. Da gibt es Streit mit meiner Frau. Es kommt schon vor, dass ich sage, morgen ernten wir auf den Feldern den Weizen. Der Wetterbericht sagt, es wird schönes Wetter, aber dann fängt es doch an zu regnen. Dann sage ich, ach Mist, wir müssen jetzt noch eine Woche warten und wer weiß, ob der Weizen dann nicht von den Vögeln weggefressen wird. Aber in diesem Alltag, in dem es auch viel Unzufriedenheit gibt, habe ich gelernt zufrieden zu sein mit dieser Unzufriedenheit. Glücklich zu sein auch mit den unglücklichen Tagen. So wie ich natürlich auch mit den glücklichen Tagen zufrieden bin.

Erntezeit 2016 im Kloster Antaiji
Erntezeit 2016 im Kloster Antaiji Foto: antaiji.org (Junya Yamazaki)
Erntezeit 2016 im Kloster Antaiji
Foto: antaiji.org (Junya Yamazaki)

Sie haben im Internat begonnen zu meditieren. Am Ende dieser Meditationen gab es immer auch einen kleinen Gesprächskreis, der Raum für Erfahrungsaustausch bot. Oft waren Sie allerdings der Einzige, der nichts zu sagen wusste. Sie erlebten während Ihrer Meditation nichts Besonderes und doch haben Sie später die Gruppe geleitet, als der Lehrer das Internat verließ, und Sie meditieren noch heute und das nicht selten. Haben Sie eine Erklärung, warum Sie das Sitzen nie losgelassen hat?

Manche konnten da während der Meditation ein Pendel in ihrem Inneren schwingen sehen. Andere sahen sich über eine schöne Blumenwiese wandeln. Ich war immer der Einzige, der sagen musste: »Es tut mir leid, aber da war nichts Besonderes.« Für mich war anfangs allein die Erfahrung des Sitzens, und dass ich einen Körper habe eine riesengroße Entdeckung. Nie wäre mir vorher in den Sinn gekommen, dass die Haltung meines Körpers mich beeinflussen könnte. Es kommt doch darauf an, was ich in meinem Kopf denke, glaubte ich. Der da oben denkt, das bin ich.

Die erste große Erfahrung war, dass Körper und Geist verbunden sind. So wie ich sitze, so bin ich auch. Die Haltung bestimmt mich. Wenn ich anders sitze und still bin, sehe ich auch die Welt anders. Plötzlich höre ich den Regen leise vor dem Fenster fallen. Ich höre Vögel zwitschern. Ich bin mir meines Atems bewusst, den ich 16 Jahre lang nie gespürt habe. Ich wusste, ich muss atmen, sonst ersticke ich. Aber gespürt habe ich den Atem nie. Das war für mich vielleicht eine wichtigere Erfahrung als ein Pendel, das ich in meinem Inneren hätte schwingen sehen können. Ich setzte mich hin und von Anfang an fühlte es sich so an, als stimmte da etwas. Was genau, ist schwer zu sagen. Aber ich hatte mein Zuhause wiedergefunden.

Wir sind MeisterInnen darin, uns mit unseren Gedanken selbst auszutricksen. Kann Meditation hierfür ein gutes Gegenmittel sein oder überhaupt ein Mittel? Es dient in jedem Fall dazu, dass ich bemerke, was in meinem Geist geschieht.

Genau. Man durchschaut die Trickkiste, die man da oben hat. Man kann dann gar nicht mehr glauben, dass man sich zum Sklaven seiner Gedanken gemacht hat. Wenn man erst mal die Matrix durchschaut hat, verliert sie ihre Kraft. Und dann braucht man auch kein Gegenmittel mehr. Es ist nur, dass wir diese Trickkiste oft nicht durchschauen wollen. Denn meist ist es viel angenehmer, sich Illusionen zu machen, als zu erkennen, dass wir die meiste Zeit unseres Lebens damit verbracht haben, irgendwelchen Illusionen, irgendwelchen Karotten hinterherzulaufen, die wir uns selbst vor die Nase gehalten haben.

In Ihrem aktuellen Buch schreiben Sie: »Ein Stern leuchtet, weil er brennt. Er fragt nicht danach, was ihm sein Leuchten bringt.« Wir Menschen scheinen es nicht ganz so einfach wie die Sterne zu haben. Wir sind zum Denken bestimmt. Ist das ein Fluch oder können wir dankbar dafür sein?

Beides. Es gibt diesen Satz im Zen: »Ein Vogel fliegt am Himmel, ohne sich Gedanken zu machen.« Der Vogel weiß nicht, wie er fliegt. Er geht auch auf keine Flugschule. Er macht sich keine Gedanken, wie weit der Himmel ist. Nur wir Menschen machen uns diese Gedanken. Und weil wir Menschen sind, wünschen wir uns, dass wir so wären wie der Vogel. Dabei merken wir gar nicht, dass das Denken im Grunde auch unser Element ist. So wie für den Vogel das Fliegen sein Element ist.

Ein Mensch denkt und das ist gut so, denn wir sind Menschen. Das gehört zum Leben dazu. Und das ist nicht immer einfach. Wir machen uns eine Menge Probleme, weil wir plötzlich nur noch denken und vergessen, dass das Leben so viel mehr ist als Denken. In der spirituellen Szene gehen wir aber manchmal zu weit mit dem Verleugnen des Denkens. Da gibt es so Vorstellungen wie: »Du hast keine Probleme mehr, wenn du nicht mehr denkst.« Vielleicht ist es aber auch gut, dass wir Probleme haben.

Wir sollten nicht versuchen, zu Robotern zu werden oder einfach nur happy sein zu wollen, mit dem Zustand, so wie er ist. Ich glaube, für den Menschen ist es wichtig, dass er auch sein kritisches Denken behält und überlegt, was er vielleicht besser machen, wie er die Welt ändern kann. Ich nehme die Welt heute an, so wie sie ist. Was bleibt mir anderes übrig? Aber das erlaubt mir auch, sie morgen zu ändern. Ich glaube, die zwei Dinge können zusammen gehen, auch wenn manchmal so getan wird, als müssten wir das Eine dem Anderen vorziehen. Wir dürfen die Welt so annehmen wie sie ist, aber genau deshalb dürfen wir auch versuchen, eine Revolution zu starten.

Als Sie neu im Kloster waren, mussten Sie für alle kochen, was für Sie nicht einfach war. Sie machten einige Fehler. Ihr Zen-Meister meinte damals zu Ihnen: »Es geht hier nicht um dich.« Für Sie war das ein entscheidender Hinweis.

Eigentlich ist es selbstverständlich, aus der Perspektive der Anderen, geht es nicht um einen selbst. Aus meiner Perspektive bin ich ganz selbstverständlich davon ausgegangen, dass es natürlich um mich geht. Am Anfang hatte mir mein Meister auch gesagt: »Du erschaffst Antaiji. Was du hier sehen und erfahren kannst, liegt an dir. Du musst Buddha werden. Wenn du in Antaiji nicht Buddha wirst, gibt es Buddha nirgendwo.« In gewisser Weise geht es nur um dich. Und plötzlich sagte er mir, um dich geht es gar nicht. Da merkte ich, dass Buddha zu leben, bedeutet letztlich von mir selbst abzusehen und mich in jedem Ding, in jeder kleinen Erfahrung wiederzufinden.

Es ist wichtig zu erkennen, nur ich kann mein Leben leben, keiner kann das für mich machen. Aber dafür muss ich mich selbst loslassen und mich dem Leben überlassen. Das Leben lebt schon durch mich. Ich stehe dem nur allzu oft im Wege. Sobald ich da loslasse, spüre ich, oh, all das, was ich sehe und höre in diesem Moment, das bin ich. Aber das ist nicht so einfach.

Mit dem Tod verhält es sich nicht anders. Wenn man sich selbst zu wichtig nimmt, erleichtert das den Prozess des Sterbens sicher nicht. Das ist auch eine Art des Loslassens, die bestimmt nicht einfach ist.

Genau, aber das kann man üben. Das ist das Glück, das wir haben, dass man mit jedem Atemzug loslassen kann.

Sie sagen auch, »jeder Tag des Lebens ist ein Tag des Sterbens«.

Dieser Tag kommt nicht zurück. Morgen wird nicht heute sein. Ich kann mit dem nächsten Atemzug diesen nicht nachholen. Aber das bedeutet nicht, dass ich jetzt meine Lungen vollpumpen muss und dann versuche, nicht mehr auszuatmen. Sondern ich atme aus und da ist wieder Luft zum Atmen für den nächsten Atemzug. Und so ist es ja auch von Tag zu Tag.

Kloster Antaiji
Kloster Antaiji Foto: antaiji.org (Junya Yamazaki)
Zendo
Zendo (Meditationshalle) Foto: antaiji.org (Junya Yamazaki)

Was antworten Sie jemandem, der sagt: »Okay, das kann ich üben, aber ich habe trotzdem Angst vor dem Tod.«

Hab Angst. Warum nicht Angst haben? Das gehört auch zum Leben. Aber schau dich auch um, bis heute ist jedem das Sterben gelungen. Manche hatten Angst vor dem Tod und sind gestorben und heute friedlich tot, andere hatten keine Angst vor dem Tod und sind auch gestorben. Die Angst wird dir das Sterben nicht erleichtern, aber auch nicht erschweren, denn sterben wirst du. Mach dir Angst, wenn du willst, aber du musst dir keine machen.

Sie sind Vater von drei Kindern, seit 15 Jahren Ehemann und deutscher Abt eines Zen-Klosters in Japan, einem Land, das seit 25 Jahren Ihre Heimat ist. Eine Weile lebten Sie in Osaka, der zweitgrößten Stadt Japans, als Obdachloser, da Sie Zen aus dem Kloster in die Welt bringen wollten. Wenn Sie auf Ihr bisheriges Leben blicken, können Sie aufgrund Ihrer Erfahrungen sagen, was uns Menschen verbindet? Was uns ausmacht?

Hm, gute Frage. Eigentlich ist es eine Überraschung, dass wir alle die Welt durch verschiedene Augen sehen, obwohl wir in derselben Welt leben und dasselbe Leben leben.

Umgekehrt könnten wir sagen, obwohl wir so egoistisch sind und eigentlich nur den eigenen Schmerz echt spüren, ist es ein Wunder, dass es doch immer wieder Momente der Liebe gibt oder das Gefühl des Verbundenseins, Solidarität, Freundschaft und selbstlose Hilfe. Das macht uns als Menschen genauso aus wie der Egoismus. Es ist ein totales Mysterium für mich, dass wir diese beiden Seiten in uns tragen, diesen Egoismus, dem der Andere total egal ist, aber dann immer wieder auch diese Großzügigkeit und Verbundenheit. Ich selbst versuche mein Leben so zu leben, dass ich es teile. Das Leben, das mir geschenkt wurde, möchte ich mit anderen teilen. 

Das Interview wurde erstmalig in leicht abgeänderter Form in der Zeitschrift Ursache\Wirkung (02/2017) veröffentlicht.