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Judith Hanson Lasater: »Das Asana ist ein Sprungbrett. Es ist eine Einladung nach innen zu schauen.«

Die amerikanische Yogalehrerin und Expertin für Restorative Yoga Judith Hanson Lasater übt seit 45 Jahren Yoga. Sie war lange Schülerin von B.K.S. Iyengar und hat nach dem Tod ihres Zwillingsbruders über ein Jahr lang ausschließlich regeneratives Yoga praktiziert. Mit uns sprach sie über die Entwicklung von Yoga im Westen, B.K.S. Iyengar und die Notwendigkeit von Trauer.

Von Anne Voigt   —   15. April 2015

Als du in den siebziger Jahren anfingst, Yoga zu üben, musstest du in Einrichtungshäuser gehen, um Teppichunterlagen zu kaufen, die du dann später zu Matten zurechtgeschnitten hast. Yoga war nicht wie heute Teil der Massenkultur. Wie hast du das damals erlebt? Und was denkst du über den Wandel, der sich in der Yoga-Welt vollzogen hat?

Ich habe 1970 angefangen, Yoga zu üben und begann auch recht schnell mit dem Unterrichten. Yoga war damals noch Teil der Gegenbewegung. Die Beatles gingen nach Indien, um mit Maharishi Mahesh Yogi zu meditieren. Sie nutzten Sitars in ihrer Musik. Wir begannen uns für solche Dinge zu öffnen. Von der Massenkultur wurde das nicht abgelehnt, es wurde einfach nicht verstanden. Als ich meiner Familie sagte, dass ich Yoga übe, fragte sie mich: »Warum möchtest du auf einem Bett voller Nägel liegen?« Damals gab es keine Yogahilfsmittel zu kaufen, also mussten wir unsere Matten im Teppichgeschäft besorgen.

Als ich in den frühen Siebzigern nach San Francisco zog, kannte ich dort jedes Yogastudio. Wir wünschten uns in dieser Zeit mehr Akzeptanz, mehr Schüler, da wir wussten, was Yoga zu bieten hat. Das Schöne war aber, dass wir Yogalehrer zusammen hielten. Wir unterstützen uns gegenseitig und waren so dankbar für die Möglichkeit, ein Studio eröffnen zu können.

Heute ist Yoga überall: in Hollywood, in Krankenhäusern und auch an Universitäten gibt es Yogatherapie-Programme. Viele Menschen profitieren davon, was wunderbar ist. Trotzdem denkt heute jeder, er weiß, was Yoga ist. Jeder kennt das Wort, die Tiefe der Praxis wurde aber bis heute nicht von der breiten Masse verstanden. Selbstreflexion, Innenschau, die Entwicklung von Mitgefühl, all diese tieferen Praktiken sind für die meisten nicht so spannend wie jemand, der im Kopfstand steht und gleichzeitig die Beine im Lotus verknotet hat.

Dein Verständnis von Yoga hat sich über die Jahre immer mehr erweitert. Was ist Yoga heute für dich?

Yoga ist beides, ein Bewusstseinszustand und die Praxis, die damit verbunden ist. In den ersten zehn Jahren, in denen ich Yoga übte, ging es mir darum, irgendwo anders anzukommen. Ich hatte ein Ziel, ich war ehrgeizig. Ich wollte länger meditieren und tiefer in die Haltungen gehen. Der Gott oder mein Höheres Selbst war da oben, ich war hier unten. Das änderte sich dann aber langsam. Integration wurde mir wichtiger als Transzendenz. Jetzt möchte ich alle Teile meiner Psyche, meines Körpers und meine Emotionen in meine Yoga-Praxis integrieren. Ich schätze heute die Universalität meines Übens. Zwiebeln schneiden ist auch Praxis. Jede Person, die ich treffe, ist Buddha. Jeder Moment ist eine Möglichkeit, sich für das Ganze zu öffnen. Es gibt keinen Ort, an dem die Yogamatte nicht zu finden ist.

Du hast gesagt, dass Yoga heute oft auch Ablenkung und Unterhaltung ist. Vor allem in den USA kannst du das beobachten. Was meinst du damit und warum denkst du, hat es sich in diese Richtung entwickelt?

Wir mögen es, abgelenkt zu werden. Wir zahlen denjenigen das meiste Geld, die uns am besten ablenken können. Schauspieler und Sportstars verdienen Millionen Dollar. Ablenkung ist ein menschliches Bedürfnis, eine Qualität. Wir brauchen Momente, in denen wir aus unserer Arbeitswelt ausbrechen und einen Perspektivwechsel vornehmen können. Mit einem Freund zusammen habe ich den »Stupid Movie Club« gegründet. Manchmal gehen wir ins Kino, einfach um alberne Filme anzuschauen. Und es stimmt, auch in der Yoga Welt hat sich ein gewisser Unterhaltungsaspekt etabliert. Im Unterricht muss Musik laufen. Es ist wichtig, die richtige Kleidung zu tragen. Wir müssen in der Mitte des Raumes zeigen, dass wir einen Handstand beherrschen. Da ist öfter ein gewisser wetteifernder Sportaspekt zu beobachten. Das traditionelle Yoga, so wie ich es verstehe, betont, was auch Patanjali sagt: Das Asana ist stabil und angenehm. Es ist beständig, ruhig und entspannt. Wir erfahren Stille und Leichtigkeit, wenn wir Yoga üben. Kannst du Ruhe finden und präsent sein, selbst wenn du eine für dich schwierige Bewegung oder einen herausfordernden Stretch übst?

Du warst eine der ersten Schülerinnen von B. K. S. Iyengar. Über 15 Jahre hast du regelmäßig seine Workshops besucht. Die erste Haltung, die er dir beibrachte, war Tadasana. Erinnerst du dich noch, was er dich über diese Haltung lehrte?

Ich weiß noch, als er Tadasana unterrichtete, dachte ich, es sei Zeitverschwendung, diese Haltung zu üben. »Einfach nur rumstehen, können wir bitte das richtige Yoga üben!« Immer wenn er in meine Nähe kam, sagte er etwas zu mir wie beispielsweise: »Du bezeichnest dich als Yogalehrerin, kannst aber nicht mal auf deinen eigenen zwei Füßen stehen!« Das irritierte mich. Ich fragte mich, was sein Problem sei. Ich gab mein Bestes und da waren schließlich auch noch andere Schüler im Unterricht! Diese Art von Gespräch führte ich mit mir selbst. Er machte aber einfach weiter. Und dann irgendwann veränderte sich etwas in mir.

Plötzlich verstand ich. Mit einem großen Lächeln im Gesicht schaute ich zu ihm auf und er grinste zurück. Dieser Mann brachte mir bei, wie ich dachte. Er zeigte mir, wie ich die Welt sah, wie ich mit ihr interagierte. Dieser Mann war ein wahrer Yogalehrer. Er brachte mir nicht einfach nur diese Haltung bei, er lehrte mich diese Haltung für mein Leben. Damit ich begriff, wie ich mich selbst begrenzte und die Dinge nicht sah, wie sie waren. Das Asana ist ein Sprungbrett. Es ist eine Einladung, nach innen zu schauen. Das ist manchmal schwierig, lohnt sich aber immer.

Den Gebrauch von Hilfsmitteln hast du bei B.K.S. Iyengar gelernt. Heutzutage bist du weltweit bekannt für das Unterrichten von Restorative Yoga. Das ist eine regenerative Art des Übens, für die es vieler Hilfsmittel bedarf, damit der Körper in bequemen und entspannten Haltungen lange ruhen kann. Was ist Entspannung für dich, innerhalb und außerhalb deiner Yoga-Praxis?

Entspannung ist die Kunst, in deinem Körper zu Hause zu sein, wo auch immer du bist und was auch immer gerade passiert.

Regeneratives Yoga hast du in den Achtzigern zufällig entdeckt, während du einen Yoga-Workshop in Kanada unterrichtet hast.

Ja, das stimmt. Am Ende des Workshops während der letzten Yogastunde gab es einen heftigen Regensturm, der für Stromausfall sorgte. Dadurch konnten wir nicht mehr ganz so gut sehen. Ich sagte meinen Schülern dann, dass sie sich auf eine Kissenrolle legen sollten. Das gefiel ihnen so gut, dass sie nicht aus der Haltung herauskommen wollten. Also überlegte ich mir über eine Stunde lang weitere Möglichkeiten, wie sie unterstützt mit Decken und Kissen verschiedene Haltungen üben konnten. Heute nennen wir es Restorative Yoga. Es entstand aus einer Gelegenheit heraus.

Manche denken, diese Art von Yoga ist nichts anderes als Schlaf. Aber das stimmt nicht.

Nein, du schläfst nicht. Die Menschen heute leiden sehr unter Schlafmangel. Oft sind sie total aufgewühlt und nervös. Wenn du sie dann in eine regenerative Haltung bringst, schlafen sie oft sofort ein. Sie sind so erschöpft vom wenigen Schlaf. Meist kennen sie nicht diesen Zustand, in dem man aufmerksam ist, aber nicht schläft. Wie eine Katze auf einer Fensterbank; sie schaut sich alles an, ist aber trotzdem ruhig und entspannt. Restorative Yoga üben wir wie die Katze auf der Fensterbank.

Dein Zwillingsbruder starb an eurem 45. Geburtstag. Und das führte dazu, dass du regeneratives Yoga auch in deine eigene Praxis integriert hast.

Ja, denn als er verstarb, war ich sehr traurig. Ich war nicht in der Lage, einen Handstand zu machen. Daher entschied ich, für einige Zeit auf meiner Matte nur auszuruhen.

Du findest, dass in unserer Gesellschaft zu wenig getrauert wird. Was vermisst du?

Jede Art von Traurigkeit hat mit Verlust zu tun: Vergebene Gelegenheiten, der Todesfall eines geliebten Menschen oder auch der Verlust von Geld. Unsere Gesellschaft hat immer weniger Rituale, die uns helfen, Verlust zu akzeptieren. Ein Grund dafür ist, dass Menschen in westlichen Kulturen nicht mehr in die Kirche oder in andere religiöse Institutionen gehen. Das waren Orte, an denen es Rituale gab. Wir schenken Verlust nicht die nötige Aufmerksamkeit. Vor allem nicht, wenn es um den Tod geht.

Wir haben diese unrealistische Erwartung, dass Menschen über den Verlust eines Menschen schnell hinwegkommen müssen. Über den Verlust eines Menschen kommst du nie hinweg. Du integrierst ihn Stück für Stück in dein Leben. Es gibt so viel unausgesprochene Trauer.

Eine Freundin von mir hatte einen Hund. Nach 17 Jahren musste sie ihn beerdigen. Meistens sagen wir dann zu Leuten wie meiner Freundin: »Zumindest hatte er ein gutes, langes Leben. Sei nicht traurig. Lass uns einen neuen Hund für dich besorgen.« Wir erlauben den Betroffenen keinen Raum für Trauer.

Ich glaube wirklich, dass das ein Grund für die steigende Anzahl von depressiven Menschen ist. Depression ist nicht Traurigkeit, sie ist das Unterdrücken von Gefühlen. Sie ist eine Strategie, um sich nicht traurig fühlen zu müssen. Wir fürchten so sehr, dass die Leute depressiv werden, dass wir sie erst gar nicht ihre Trauer spüren lassen.

Wenn meine Schüler traurig sind, empfehle ich ihnen, in einen stillen Raum zu gehen, sich auf den Boden zu legen, Arme und Beine offen am Boden abzulegen und die Stoppuhr im Handy auf fünf Minuten einzustellen. Und dann sollen sie so traurig wie nur irgendwie möglich sein. Diese Traurigkeit kannst du nicht sehr lange aushalten. Ziemlich bald wirst du denken, dass du durstig bist oder Abendbrot vorbereiten musst. Das Leben wird sich durchsetzen. Ich denke, indem wir die Trauer unterdrücken, entsteht die Depression. Anstatt diese intensiv zu fühlen und sie loszulassen.

Am allerliebsten lache und weine ich zur selben Zeit. Wenn du beispielsweise auf einer Beerdigung über einen Menschen sprichst, den du verloren hast. Du denkst über die verrückten Dinge nach, die du mit ihm erlebt hast. Und du fängst an, darüber zu lachen. Und dann beginnst du zu weinen, denn du wirst ihn vermissen. In diesen Momenten fühlen wir uns so lebendig. Denn wir sind lebendig in unserer Freude und in unserer Trauer. In diesen Momenten sind wir tief und radikal menschlich. Wir verleugnen weder unsere Trauer noch unsere Freude. Daher liebe ich auch das Wort ‚bittersüß’. Das ist das beste Wort, um das Leben, so wie ich es kenne, zu beschreiben.

Yoga ist für dich eine Praxis, die sich von innen nach außen entfaltet. Was bedeutet das für dein eigenes Üben und auch für deinen Unterricht?

Vor einem Jahr saß ich morgens in New York City am East River. Ich schaute auf den Fluss und ich sah, wie die silberglänzenden Wellen sich bewegten. Ich konnte an dieselbe Stelle im Fluss schauen und sie sah jede Sekunde anders aus. Die Form der Wellen änderte sich, aber es war trotzdem derselbe Fluss. Das war einfach eine Beobachtung von mir, aus der später ein Gedicht entstand. So wurde sie Teil meines Unterrichts.

Yoga ist wie dieser Fluss. Seit Tausenden von Jahren wurde diese tiefe Praxis voller Weisheit geübt, und trotzdem nimmt sie in jedem Moment eine neue Form an. Wenn ich meine Matte betrete und Trikonasana übe, hat Trikonasana so vorher noch nie existiert. Es entsteht wie eine Welle an der Oberfläche eines Flusses und zur selben Zeit verschwindet es auch wieder. Das ist alles, was ich tue. Ich lebe mein Leben mit einem möglichst offenen Herzen. Ich übe jeden Morgen und sehe, dass die Lektionen der Matte überall sind. 

Das Interview wurde erstmalig in leicht abgeänderter Form in der Zeitschrift Yoga Aktuell (Ausgabe 05/2015) veröffentlicht.