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Frank Ostaseski: »Wenn ich in die Augen eines Sterbenden blicke, sehe ich den klarsten Spiegel, in den ich je geschaut habe.«

Der buddhistische Lehrer und Autor Frank Ostaseski ist weltweit eine führende Stimme der kontemplativen Sterbebegleitung. In den letzten 30 Jahren hat er mit einigen tausend Menschen an der Schwelle des Todes gesessen. Ein Gespräch über Menschlichkeit, den Tod und warum dieser so wichtig für das Leben ist.

Von Anne Voigt   —   4. Oktober 2017

Du hast das erste buddhistische Hospiz in den USA mitbegründet. Wenn Ehrenamtliche deine Arbeit dort unterstützen wollten, fragtest du sie zu Beginn: »Seid ihr bereit, euer Herz zu öffnen und es euch brechen zu lassen?« Wieso diese Frage?

Ich wollte wissen, ob sie wirklich gewillt sind, die Grenzen zwischen sich und anderen aufzulösen. Wollten sie diese Chance wirklich nutzen? Um diese Arbeit tun zu können, müssen wir unsere Grenzen wahren, aber es ist genauso wichtig zu wissen, wie man sie auflösen kann. Wir sollten die anderen in uns selbst wiederfinden. Wenn du jemanden bei seinem Sterbeprozess begleitest, kommst du ihm sehr nah. Er wird dir sehr vertraut. Er wird dir dein Herz weit aufbrechen. Aber genau in diesem geöffneten Herzen finden wir das, was wirklich zählt.

Wie haben die angehenden Sterbehelfer auf diese Frage reagiert?

Oft gaben sie mir eine Standardantwort: »Nein, nein, deswegen bin ich nicht gekommen. Ich bin nur für die Patienten hier.« Daraufhin sagte ich: »Ich möchte, dass ihr herausfindet, was eure Bedürfnisse als Ehrenamtliche sind.« Anfangs verstanden sie die Aufforderung nicht und so fuhr ich fort: »Wenn ihr ehrenamtlicher Arbeit nachgehen wollt, habt ihr Bedürfnisse. Es gibt etwas, das ihr wollt und es ist wichtig, sich das einzugestehen und es laut auszusprechen. Ansonsten werdet ihr das unbewusst auf die Menschen projizieren, denen ihr dienen möchtet.«

Was war anfangs dein Bedürfnis?

Wenn du mit jemandem zusammen bist, der stirbt, ist das eine sehr ehrliche Beziehung. Und das wollte ich. Das war eines meiner Bedürfnisse. Ich wuchs in einem Elternhaus auf, das ein wenig dysfunktional war. Es wurde eine Menge versteckt und vorgetäuscht. Ich wollte etwas, das sich echt anfühlt. Und ich kenne nichts, das echter ist, als mit einer Person zusammen zu sein, die stirbt. Wenn ich in die Augen eines Sterbenden blicke, sehe ich den klarsten Spiegel, in den ich schauen kann. Sie zeigen dir dein Selbst auf eine Art und Weise, wie es nichts anderes kann. Dort sah ich mein eigenes Festhalten und meine Abneigungen, aber auch etwas, das ich »unsterbliche Liebe« nenne.

Damit ich anderen wirklich dienen konnte, musste ich mich selbst betrachten und zuallererst mit mir selbst ehrlich sein. Wenn wir Angst nicht verstehen und jemand in unserer Nähe ängstlich ist und wir zu ihm sagen, dass wir ihn verstünden, wird er ahnen, dass wir nicht wirklich wissen, wovon wir sprechen. Er wird unsere Sentimentalität spüren und damit sind wir keine Vertrauensperson für ihn. Ich muss an mir selbst arbeiten, um anderen wirklich dienen zu können. Und mein Dienst an anderen ist ein Weg, mich selbst zu nähren.

Mit Anfang 20 hast du begonnen, dich mit Meditation zu beschäftigen. Erst hast du in der Vipassana-Tradition geübt und später Zen. Was glaubst du, hat dein Interesse für Meditation geweckt?

Das ist eine gute Frage. (überlegt lange) Nun, ich denke, die Wahrheit ist, dass ich nach Wegen gesucht habe, meinen eigenen Schmerz zu vermeiden. Ich denke, das ist eine übliche Motivation für Menschen, die sich der Meditation verpflichten. Sie versuchen gewissermaßen etwas zu finden, das ihnen den Schmerz nimmt.

Hat es funktioniert?

Nun, bevor ich meditierte, hatte ich eine ganze Menge anderer Dinge versucht: Sex, Drogen und Rock’n’Roll. Aber nichts davon funktionierte. Bei der Meditation war das anders. Erstens musste ich im Buddhismus an nichts glauben. Und zweitens bot er mir eine Praxis, die mir zeigte, wie ich mich meinem Schmerz zuwenden kann. Und das war unglaublich wertvoll für mich. Mit den Jahren lernte ich, mich meinem Schmerz zuzuwenden und das wird zur Grundlage von Mitgefühl. Und wenn Mitgefühl beginnt, in uns zu wachsen, dann will es sich einfach nur in der Welt ausdrücken. Anfangs meditierte ich also, um meinen Schmerz zu vermeiden. Später wurde es ein Weg, mein Herz in der Welt auszudrücken.

Seit ein paar Jahren leitest du nicht mehr das Zen Hospiz. Mittlerweile unterrichtest du vor allem Menschen, die in der Sterbebegleitung tätig sind. Du sagst, deine Hauptaufgabe dabei sei es, den Sterbebegleitern ihre Menschlichkeit zu lassen. Du möchtest sie anregen, offen, neugierig und präsent zu sein. Die Dinge zu akzeptieren, wie sie sind. Das klingt wundervoll, aber wie stellt man das an?

Durch Übung. Für mich gibt es kein größeres Abenteuer in der Welt, als wirklich alle Facetten unseres Menschseins zu leben. Weißt du, was mich erstaunt? Wir nehmen all das, was wir sind, und schrumpfen es in eine so kleine Geschichte über uns selbst zusammen. Mensch zu sein, heißt nicht, perfekt zu sein. Perfektion bedeutet nicht, alles ist in Ordnung. Für mich ist Perfektion, wenn jeder Teil von mir sein darf. Mein Ärger, mein Hass, auch meine Liebe und mein Mitgefühl. Das alles gehört zum Menschsein dazu. Und mit all dem möchte ich vertraut sein. Ich möchte wissen, welcher Teil in mir Trennung und welcher Ganzheitlichkeit erzeugt. Vollkommen Mensch zu sein ist die Aufgabe, die wir in diesem Leben haben.

Viele ängstigt das.

Ja, das stimmt. Aber ich möchte nicht zulassen, dass Angst uns aufhält. Daher ist es wirklich wichtig für uns, einen starken Rücken zu haben. In dieser Welt brauchen wir einen Rücken, der kräftig und ausgeglichen ist. Aber wir brauchen auch eine sanfte Vorderseite. Wir brauchen ein Herz, das durch Mitgefühl, Liebe und Altruismus geprägt ist. Gewöhnlich ist es umgekehrt. Wir haben eine harte, gepanzerte Vorderseite und einen sehr schwachen Rücken. So sind wir manchmal nicht in der Lage für die Dinge einzustehen, an die wir glauben. Teil der Welt zu sein, heißt nicht, ein Fußabtreter zu sein. Es bedeutet viel mehr, sich zu zeigen, für etwas einzustehen und Dinge anzusprechen. Und dabei sollten unsere freundlichen, mitfühlenden und großzügigen Herzen uns leiten.

Was wäre der erste Schritt, um eine »sanfte Vorderseite« zu kultivieren?

Weißt du, eines der Dinge, die uns Menschen so einzigartig macht, ist unsere Verletzlichkeit. Die Tatsache, dass wir der Welt gegenüber so durchlässig sein können. Wir können zulassen, dass die erhabene Schönheit der Welt sich in unserer Seele oder in unserem Bewusstsein ausdrückt. Genau wie sich das Grauen der Welt in ähnlicher Weise zeigen kann.

Das hast du nach deinem Herzinfarkt so erlebt.

Ja, vor ein paar Jahren leitete ich einen Workshop für Ärzte und Krankenpfleger zum Thema Mitgefühl. Währenddessen hatte ich einen Herzinfarkt. Ich musste mich einer dreifachen Bypass-Operation unterziehen, der sich eine monatelange Genesungsphase anschloss. Anfangs war es sehr schwierig für mich. Ich fühlte mich schwach, abhängig und hilflos. Ich hatte Glück, dass ich Freunde hatte, die nach mir schauten. Aber ich hatte trotzdem fast die gesamte Zeit über Angst. Ich befürchtete, nicht mehr in der Lage zu sein, zu dem Leben, das ich einst führte, zurückkehren zu können. Würde ich wieder unterrichten können? Ich konnte kaum stehen.

Ganz allmählich erlaubte ich mir, mich all dem zuzuwenden. Ich dachte: »Okay, vielleicht wird das jetzt den Rest deines Lebens so sein.« Und je mehr ich es akzeptieren konnte, desto mehr veränderte sich etwas für mich. Meine Schwäche und Abhängigkeit begannen sich mehr in eine Art Durchlässigkeit zu verwandeln. Es fühlte sich an, als könne der Wind direkt durch mich hindurch blasen. Monatelang weinte ich fast täglich. Die Tränen fühlten sich an, als hätten sie schon mein ganzes Leben lang auf mich gewartet. Aber es war eben auch so, dass ich zu dieser Zeit keine Filter hatte, keine Abwehrmechanismen der Welt gegenüber.

Du sagst, alles, was du über das Sterben weißt, hast du von den Menschen gelernt, die in deiner Nähe gestorben sind. Sie zeigten dir den Weg. Sie wussten, wie man stirbt. Was war deine Aufgabe während dieses Prozesses?

Teil meines Jobs war es, still zu sitzen, weniger zu reden und zu berühren, wenn es angemessen erschien.

Wenn du den Raum eines Sterbenden betrittst, setzt du dich als erstes in eine Ecke um zuzuhören.

Ja, ich denke, oft bieten wir unsere Hilfe an, bevor wir eigentlich wissen, was gebraucht wird. Wir betreten den Raum mit einer Idee im Kopf und versuchen sie gleich umzusetzen, statt erst einmal zu schauen, was wirklich gebraucht wird. Ich weiß nicht, wie diese Person sterben soll. Sie weiß es. Ich muss das von ihr erfahren. Und manchmal weiß sie es nicht mal selbst. Durch das Erforschen, ein Gespräch oder einer anderen Form des Austausches, versuchen wir zusammen zu verstehen, was am meisten benötigt wird.

Ich denke nicht, dass es mein Job ist, Menschen an meine Vorstellung vom Sterben heranzuführen – der buddhistischen Art des Sterbens oder einer bewussten Art des Sterbens. Meine Aufgabe ist es, ihnen zu helfen, auf die Weise zu sterben, wie es am ehesten zu ihnen passt. Also ja, ich habe gelernt zuzuhören.

Welche Art des Zuhörens ist das?

Ich höre vom Körper, Herzen und Geist zu. Ich beobachte die somatischen und emotionalen Signale und achte darauf, was gesagt wird. Ich habe gelernt, mir selbst zuzuhören – zuerst meinem Kopf, dann meinem Herzen und zum Schluss meinem Körper. Und danach wende ich mich aufmerksam der anderen Person zu. Ich schaue, was ihre Gedanken, ihr Herz und Körper sagen. Das ist ganzheitliches Zuhören. Wenn wir uns nur auf einen Bereich konzentrieren, werden wir nur einen sehr kleinen Teil des großen Ganzen sehen können.

Du sagst: »Der Tod ist normal. Wir sterben alle. Das Problem ist, wir vergessen das recht oft.« Wie können wir es schaffen, uns mehr mit dem Tod auseinanderzusetzen?

Einerseits ist der Tod absolut gewöhnlich. Keiner kommt hier lebend raus. Wenn wir den Tod betrachten, denken wir aber oft, dass er später kommen wird. Und dieses »Später« verschafft uns eine angenehme Distanz von der Erfahrung. Daher erkunden wir sie gar nicht erst. Für mich ist es hilfreich zu schauen, wie ich mit Enden an sich umgehe: Mit dem Ende eines Satzes, eines Atemzuges, einer Mahlzeit oder eines Gesprächs. Wie verhalten wir uns in solchen Momenten? Nehmen wir sie überhaupt bewusst wahr? Halten wir an der Vergangenheit fest, in der Hoffnung, dass sie uns etwas geben wird, was sie uns noch nicht gegeben hat? Ich denke, eine gesunde Art zu beginnen, sich mit dem Tod auseinanderzusetzen, ist es verschiedene Enden zu betrachten.

Darüber hinaus ist es wichtig und notwendig, mit unseren Kindern darüber zu sprechen, dass alles kommt und geht. Der Tod ist nicht einfach etwas, das am Ende unseres Lebens geschieht. Er begleitet uns die ganze Zeit über, in jedem Augenblick. Wie gehen wir mit der stetigen Veränderung in unserem Leben um?

Kann uns Achtsamkeit dabei helfen?

Achtsamkeit ist eine Übung, direkt auf das Leben zu schauen. Die Vorstellung, dass erst unser eigener Sterbeprozess zeigen wird, was der Tod uns lehren kann, erscheint mir absurd. Die Vorstellung, dass wir zu diesem Zeitpunkt die körperliche Stärke, die emotionale Stabilität und die geistige Klarheit haben werden, um die Arbeit eines ganzen Lebens zu erledigen, ist eine naive Illusion. Daher müssen wir jetzt üben. Achtsamkeit heißt nicht einfach nur, auf dem Kissen zu sitzen und die Beine wie eine Brezel zu formen. Achtsamkeit bedeutet, sich aktiv am Leben zu beteiligen. Das Leben so zu nehmen, wie es ist. Ohne Diskussion. Vor Jahren wurde ich von der Schule meiner Tochter eingeladen, Meditation zu unterrichten. In der ersten Stunde versuchte ich diesen zwölfjährigen Mädchen und Jungen auf eine sehr herkömmliche Weise zu erklären, wie man Achtsamkeit übt – und alle schliefen ein. In der nächsten Stunde war klar, ich musste etwas ändern.

Ich sagte: »Heute zeige ich euch, wie man küsst.« Und plötzlich waren alle sehr aufmerksam. Also fuhr ich fort: »Wenn du jemanden küsst, willst du für diese Erfahrung da sein. Du willst es nicht verpassen. Du möchtest den Geschmack, den Geruch und die Berührung wirklich wahrnehmen.« Genau das ist Achtsamkeit. Das sich vollständige Einlassen auf das Leben. Und im Zuge dessen können wir sehen, was ein heilsames Leben unterstützt und was ihm im Wege steht. Wir kultivieren das, was unterstützend wirkt und versuchen alles, was dem Heilsamen im Wege steht, zu bändigen. Dabei bereiten wir uns nicht nur auf das Sterben vor, auf diese Weise begegnen wir unserem Leben. Vollkommen. 

Das Interview wurde erstmalig in leicht abgeänderter Form in der Zeitschrift moment by moment (Ausgabe 01/2018) veröffentlicht.