David Steindl-Rast: »Die meisten Menschen würde ich als Schlafwandler bezeichnen.«
Winkl. Im Europakloster Gut Aich in der Nähe von Salzburg sitzt der 90-jährige David Steindl-Rast auf einem Sofa in einer kleinen Bibliothek. Mit seinen wachen, freundlichen Augen erwartet er die Fragen und überlegt meist länger, bevor er antwortet. Der Benediktinermönch und Autor spricht über Rechtspopulismus, interreligiösen Dialog und wieso Glaube nicht »Für-wahr-Halten« ist.
Die christliche Sozialistin und Journalistin Dorothy Day bewundern Sie sehr. 1906, als sie acht Jahre alt war, erlebte sie das starke Erdbeben in San Francisco mit. Damals schaute sie den Menschen auf der Straße zu, wie sie sich gegenseitig halfen und fragte sich: »Warum können wir nicht immer so leben?« Diese Frage lebte sie ihr ganzes Leben.
Ja, ganz tapfer.
Wie können wir es schaffen, immer so zu leben?
Wach bleiben, bewusst und dankbar leben sind Möglichkeiten, den Menschen als Menschen mit Ehrfurcht und Liebe zu begegnen. Aufgrund der heutigen Weltsituation ist jeder Einzelne gefragt.
Für mich das zur Zeit vielleicht Enttäuschendste und Beunruhigendste ist der Umstand, dass bei allem, was sich in der Welt ereignet, wir in einem kleinen Boot sitzen und schon das Rauschen des Wasserfalls hören, auf den wir zusteuern, wir aber nichts tun. Die meisten Menschen würde ich als Schlafwandler bezeichnen. Das ist mein großes Leid. Aber ich versuche, Menschen darauf hinzuweisen: Meine Lieben, wacht auf! Es ist unsere einzige Chance. Der Dalai Lama sagt das ständig.
Revolution ist für Sie ein wichtiger Begriff, der allerdings aus Ihrer Sicht revolutioniert werden müsste. Bisher wurde die jeweilige Machtpyramide immer einfach auf den Kopf gestellt. Die ehemaligen Revolutionäre stiegen von unten nach oben, ansonsten blieb alles wie bisher. Ihnen schwebt stattdessen ein Netzwerk vor. Was verstehen Sie darunter?
Die Idee ist, die Hierarchie der Macht abzubauen, also die Pyramide der Ausbeutung und Unterdrückung, und sie in ein Netzwerk umzuwandeln. Auch ein Netzwerk kommt keineswegs ohne Autorität aus, aber Autorität ist nicht Machtbefugnis. Das ist ein völliges Missverständnis, aber das ist oft die erste Bedeutung, die man heutzutage diesbezüglich im Wörterbuch findet.
Autorität ist ursprünglich Grundlage für rechtes Wissen und Handeln. Und da gibt es Menschen, die auf einer höheren Bewusstseinsebene stehen und deswegen verlässlicher sind, wenn es darum geht zu klären, was man tun soll und wie. Es wäre wichtig, diesen Menschen auch in einem Netzwerk die Autorität einzuräumen. Was wir brauchen, ist eine Vernetzung von Netzwerken. Denn gewisse Probleme sollten nur auf der untersten Ebene gelöst werden. Und nur, wenn dort keine Lösung gefunden werden kann, sollte das Problem auf der nächsten Ebene behandelt werden. Hinter der Idee von einem Netzwerk von Netzwerken stehe ich, aber es muss mit Autorität höheren Bewusstseins verbunden sein.
Der amerikanische Präsident oder auch Anhänger der rechtspopulistischen Partei FPÖ oder in Deutschland der AfD scheinen nicht so sehr an Netzwerken, sondern eher an Abgrenzung interessiert zu sein. Wie erleben Sie das? Sie waren Teenager während des Zweiten Weltkrieges.
Ja, bei den letzten Wahlen in Österreich habe ich immer gesagt, wir wissen, wo das hinführt. In den frühen Dreißigerjahren war das ganz ähnlich. Es ist ungeheuer gefährlich. Die Frage ist, wie sollen wir damit umgehen? Der Rechtspopulismus stützt sich auf Menschen, die sich übersehen und nicht geschätzt fühlen. Das muss unbedingt nachgeholt werden.
Darum scheint mir das Konzept der Feindesliebe immer wichtiger zu sein. Lieben heißt, jemanden zu achten. Es ist ein Jasagen zur Verbundenheit. Wir gehören zusammen. Das zu betonen, haben wir vernachlässigt. Das nachzuholen, ist jetzt die große Herausforderung. Aber diese Achtung und dieses »Ja« zur Zugehörigkeit muss ich auch einem Menschen gegenüber erweisen, der mein Feind ist und dessen Feind ich bleibe. Das nimmt den Stachel aus der Feindschaft heraus. Sie treten dann zum Beispiel für die Abschaffung der umweltsichernden Verordnungen ein und ich setze mich für diese ein. Wenn es um dieses Thema geht, sind wir Feinde und da werde ich alles tun, was ich im Rahmen unserer Zusammengehörigkeit und meiner Wertschätzung Ihnen gegenüber unternehmen kann, um meine Ziele zu verwirklichen.
Barack Obama schätze ich ungeheuer. Er war ein wirklicher Mensch und Staatsmann inmitten von Politikern. Bis zuletzt hat er uns immer wieder dazu aufgefordert, dass wir auf die Probleme schauen und versuchen sollen, diese gemeinsam zu lösen. Anstatt ständig nur die eine vorgefasste politische Position gegen die andere zu stellen.
Feindesliebe heißt, wir gehören zusammen und das muss auch immer wieder betont und gezeigt werden. Das ist natürlich schwierig. Ich schaue mir öfter Bilder von Donald Trump an. Ich muss ihn als Menschen wertschätzen. Ich versuche mir immer vorzustellen, wie auch er seine Familie liebt. Ich versuche das wirklich. Man muss sich bemühen, das Menschliche im anderen zu sehen, egal um wen es geht. Aber zugleich muss man ganz klar sagen: In dieser Hinsicht werde ich alles tun, dass er nicht erreicht, was er will. Das ist ein ganz großes Programm, das uns die Entwicklung in der Gesellschaft aufgibt.
Krise, so wie Sie es verstehen, ist nicht das Ende von allem. Sie sagen, »die Vorstellung von Knappheit ist eine Interpretation, die aus einem Mangel an Lebensvertrauen entspringt«. Wenn wir aus dem Bewusstsein der Fülle leben, stehen wir auch ganz anders zu einer Krise. Wie können wir das denn tun?
Hoffnung ist ein Stichwort. Hoffnung ist etwas anderes als Hoffnungen. Letzteres sind Erwartungen oder Wünsche für etwas, das man sich vorstellen kann. Hoffnung im spirituellen Sinne ist die Offenheit für Überraschungen, also für etwas, das man sich nicht vorstellen kann. Ich sehe zwar am Horizont nichts, was als Verbesserung kommen könnte, aber auch die Verschlechterung könnte sich überraschenderweise – wie häufig im Leben – als eine Gelegenheit für unvorhergesehenes Gutes darstellen. Und dafür offen zu sein, ist wichtig.
Sie haben das weltweite Netzwerk Dankbar Leben gegründet. Dankbarkeit Ihrem Verständnis nach bedeutet nicht, für alles dankbar zu sein. Für schreckliche Dinge, die einem widerfahren, kann man keine Dankbarkeit aufbringen. Aber Sie sagen, man kann für die Gelegenheiten, die sie einem bieten, dankbar sein. Welche Gelegenheiten bieten sich uns denn momentan?
Es ist sicher eine Gelegenheit zu sehen, wo wir die Menschen, die Donald Trump gewählt haben, nicht ehrfürchtig behandelt haben. Auch in unserem Denken. Wo haben wir verfehlt, sie überhaupt zu sehen oder mit ihnen in Kontakt zu treten? Das sind alles Gelegenheiten, Herausforderungen geradezu.
Um diese Herausforderungen anzugehen, kann sicher auch der interreligiöse Dialog helfen. Wie können denn Menschenrechte zu einem wichtigen Aspekt dieses Dialogs werden?
Hans Küng, der große Vertreter des Projekt Weltethos, betont immer, dass man eigentlich von Menschenpflichten sprechen sollte. Und auch der Dalai Lama spricht in seinem Buch Ethik ist wichtiger als Religion von Menschenpflichten, und dass die institutionelle Religion denen oft im Wege steht. Mir ist wichtig, dass der religiöse Dialog eigentlich nicht ein Dialog zwischen Religionen ist. Sondern ein Dialog zwischen Menschen, die verschiedenen Religionen angehören, sich aber auf der Ebene des gemeinschaftlich Menschlichen treffen.
Als Menschen sind wir im Augenblick so gefährdet, dass wir gemeinsam diese großen Aufgaben in Angriff nehmen müssen – ganz egal welcher Religion oder welcher Gruppe innerhalb einer Religion wir angehören. Darum ist der interreligiöse Dialog ganz wichtig. Aber nicht in dem Sinne, wie er manchmal beschrieben wird. Es geht nicht um die Frage, was wir beispielsweise als Christen, Buddhisten oder Hindus glauben und was nicht. Vielmehr sollte der interreligiöse Dialog als ein Dialog aller Menschen verstanden werden, ganz abgesehen von irgendwelchen Religionen.
Sie sagen auch, Religion müsse lebendig sein. Wie kann man denn dafür sorgen? Wenn Religion zur Institution wird, geht die Lebendigkeit oft verloren und es wird sich nur noch ums Verwalten gekümmert.
Grundsätzlich geht es darum, dass man sich immer wieder an die Quelle erinnert und aus ihr lebt. Das ist das Problem. Die Institution ist einerseits dafür da, uns immer wieder auf die Quelle zurückzuführen. Aber andererseits möchte sie sich als Institution auch selbst verewigen und vergisst sehr bald, wofür sie gegründet wurde. Und das ist eine große Gefahr. Das gilt nicht nur für religiöse und spirituelle Institutionen, sondern auch für zum Beispiel akademische oder politische.
Ich nenne es das Syndrom der rostigen Röhren. Es sind rostige Röhren, die uns aber auch immer wieder das Wasser der ursprünglichen Quelle zuführen. Die schwierige Aufgabe ist, mit der Institution auszukommen, das Beste von ihr zu nehmen. Und sich durch die Institution auch immer wieder zu dem zurückführen zu lassen, was sie vergessen hat oder dem sie sogar widerspricht.
Für Sie ist Glaube ein radikales, mutiges Vertrauen in das Leben. Es geht beim Glaube eben gerade nicht um ein »Für-wahr-halten« oder darum, an etwas zu glauben. Ist Letzteres in gewisser Weise einfacher, als sich mit dem Leben auseinandersetzen zu müssen?
Selbstverständlich. Der Glaube an etwas kann ein »Sich-Anklammern« sein. Im Deutschen ist es aber auch sehr missverständlich, da das Wort glauben in der Alltagssprache gewöhnlich bedeutet, etwas für wahr zu halten. Der religiöse Glaube wurde dann eben auch sehr häufig als ein »Etwas-für-wahr-Halten« von Glaubenssätzen verstanden und leider auch so gepredigt. Und das ist natürlich ein sehr weit verbreitetes Missverständnis, das offensichtlich schädlich ist. Anstatt sich an Glaubenssätze zu klammern, ist es viel wichtiger, sich vertrauensvoll auf das Leben einzulassen.
Was schenkt Ihnen denn Mut, um dieses Lebensvertrauen zu leben? Sich wirklich dem Leben hinzugeben, auch wenn es sich nicht gut anfühlt.
Das Lebensvertrauen wird uns im Normalfall geschenkt. Erweist sich die Umwelt eines Babys als vertrauensvoll, vor allem die Mutter, ist eine Voraussetzung bereits erfüllt. Der zweite Pfeiler ist, dass die Umwelt einem auch ganz früh Vertrauen schenkt. Das ist ein Unterschied. Wenn sich jemand mir gegenüber als vertrauenswürdig erweist, darf ich mich verlassen. Und wenn mir Vertrauen geschenkt wird, kann ich mich finden. Wenn einem Menschen, diese beiden Erfahrungen sehr früh schon ermöglicht werden, ist das eine sehr gute Grundlage. Ich muss dankbar zugeben, dass mir das sehr früh geschenkt wurde. Aber das Leben bringt uns immer wieder in Schwierigkeiten und macht uns Angst. Es ist sehr schwierig, sich in solchen Momenten nicht zu fürchten und durch diese Ängste ins Weite zu gehen. Das muss jeder Mensch durchmachen. Da gibt es psychische und psychophysische Prägungen.
Ich bin persönlich depressiv veranlagt. Ich habe immer wieder Depressionen, zum Glück meistens nur sehr kurze. Das sind schon große Belastungsproben für das Lebensvertrauen. Aber worüber man mit jedem sprechen kann und sollte, ist die Frage: Was ist die Alternative zu Lebensvertrauen? Lebensangst? Solange wir nicht durch psychophysische Belastungen eingeschränkt sind und eine Wahl haben, kann man immer wieder nur sagen: So schlimm es auch ist, aber mit Lebensvertrauen auf schwierige Situationen zuzugehen, hat weit mehr Chancen und ist viel angenehmer, als Lebensangst zu haben.
Das Interview wurde erstmalig in leicht abgeänderter Form in der Zeitschrift Ursache\Wirkung (Nr. 102) veröffentlicht.